Ich befasse mich seit einigen Jahren mit dem Thema "Schutzkonzept für die Kita", zuerst für meinen vorherigen Arbeitgeber, bei dem es jedoch nie zur Umsetzung kam und dann auf Trägerebene am meinem derzeitigen Arbeitsplatz und natürlich mit Beginn meiner Tätigkeit in der Kita.
Im Nachdenken über die Implementierung von Schutzkonzepten habe ich immer besser verstanden, dass institutioneller Kinderschutz keine zusätzliche Aufgabe ist, die wir nun auch noch zu wuppen haben. Betrachten wir Bildungsprogramme und alle gesetzlichen Grundlagen, dann wird die Verbindung deutlich. Erfreulicherweise entwickelt sich unsere Gesellschaft aller Radikalisierungen zum Trotz in Richtung einer Gesellschaft der Vielfalt. Zu verdanken haben wir das all jenen, die laut werden. People of Color, Frauen, LBGTQ, Menschen mit Behinderungen, Umweltaktivist*innen, Menschenrechtler*innen usw. vertreten laut ihre Rechte und die der Diskrimierten und Ausgegrenzten, machen auf alltägliche Diskriminierungen aufmerksam.
Auch im frühkindlichen Bereich kommt dieses Thema an. Wir sprechen von vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung, diskriminierungssensibler Pädagogik, Kinderrechten und Partizipation. Verfolgen wir diese Konzepte konsequent, wird schnell klar: sie implizieren auch den Kinderschutz. Mal ganz abgesehen, dass das Recht auf Schutz vor Gewalt eines der Kinderrechte der UN-Kinderrechtskonvention ist, ist es damit allein ja noch nicht getan. Kinder zu demokratischen selbstwirksamen Persönlichkeiten zu erziehen, die auf der Grundlage von ethischen Prinzipien unsere Gesellschaft aktiv gestalten, ist die beste Form von Kinderschutz. Und das ist ja nun anerkannterweise, wenn auch noch nicht bei allen Fachkräften in der Kita endgültig angekommen, Auftrag der frühkindlichen institutionellen Bildung und Erziehung.
In allem, was wir Tag für Tag mit Kindern tun, liegt dieser Auftrag. Ob es darum geht, dass ein Kind selbst entscheidet, ob es heute mittags schlafen will (und wir es dann auch nicht mit seiner Entscheidung allein lassen nach dem Motto: Das haste dir doch selber zuzuschreiben, dass du jetzt müde bist. Hättest du mal lieber auf mich, die allmächtige und alleswissende pädagogische Fachkraft, gehört.), schon 12:30 Uhr sein Vesperbrot aus der Tasche holt oder mit Wasser im Bad spielt, äh experimentiert. Immer geht es darum, Kinder in ihren Bedürfnissen, Interessen und Kompetenzen wahrzunehmen und zu stärken. Und damit sie langfristig davor zu schützen, dass andere Menschen die Kontrolle über sie übernehmen. So gesehen ist Kinderschutz in der Kita auch Gesellschaftsschutz. Stellt euch vor, ihr wacht auf und jeder Mensch handelt bewusst und orientiert an ethisch-demokratischen Werten. Welche Chance hätten denn dann noch radikale politische oder religiöse Strömungen, Diktator*innen und Verschwörungstheoretiker*innen. Ich weiß, davon sind wir weit entfernt. Lasst uns trotzdem anfangen.
Und so ist der Prozess der Entwicklung eines Schutzkonzepts eingebettet in unseren Alltag. Viele Kitateams nutzen den aktuellen Lockdown, um an ihren Konzeptionen zu arbeiten. Manche arbeiten schon auf hohem Niveau, passen ihr Beschwerdemanagement mit Kindern den aktuellen Bedingungen an. Viele bewegen sich noch viel mehr an den Grundlagen: Wie gestalten wir Mahlzeiten partizipativ? Müssen sich alle Kinder mittags hinlegen? Wie wollen wir als Team arbeiten? In der Beantwortung jeder einzelnen Frage liegen Teile, die zum Kinderschutzkonzept der Kita gehören.
Wenn ich von Leitungskräften gefragt werde, was denn ein Schutzkonzept beinhaltet, wollen sie vor allen Dingen wissen, wie sie intervenieren können, wenn es zu Grenzüberschreitungen kommt. (Und sind wir mal alle ehrlich, es kommt ständig zu Grenzverletzungen im Kita-Alltag. Allein die Rahmenbedingungen sind in sich häufig schon eine Grenzverletzung.) Natürlich muss man ein Konzept für diesen Fall haben. Jedoch bilden die Interventionen nur einen geringen Teil des Schutzkonzepts. Viel entscheidender und umfangreicher müssen Überlegungen zum präventiven Arbeiten sein, wie das Etablieren einer Achtsamkeitskultur in der Kita, die geprägt ist von einer offenen Kommunikationskultur, einer Erfahrungskultur, in der positive wie negative Erfahrungen als eine Chance für Entwicklung begriffen und genutzt werden, einer konstruktiven Feedbackkultur, einer systemischen und lösungsorientierten Herangehensweise an Herausforderungen.
Getragen werden diese Prozesse von Leitungskräften, die einen demokratisch-ethischen Leitungsstil pflegen und konsequent partizipativ mit ihrem Team arbeiten. Wir als Leitungskraft können von den Fachkräften nicht erwarten, dass sie Kinder am Alltag beteiligen, wenn wir selbst nicht bereit sind, sie an Entscheidungen zu unserem Arbeitsalltag in der Kita aktiv teilhaben zu lassen. Leitungskräfte müssen einen umfassenden Blick auf alle Akteur*innen in und um die Kita haben.
In Bezug auf die Kinder ist es ihre Aufgabe, Kindern eine dem Kindeswohl entsprechende Entwicklung ermöglichen, bei bedrohlichen Grenzüberschreitungen für Schutz zu sorgen und Kinder zur Partizipation anzuregen.
In der Zusammenarbeit mit dem Team gilt es Beteiligung zu ermöglichen, Mitarbeitende durch Personalentwicklung bestmöglich zu fördern, als Ansprechperson präsent und erreichbar zu sein, Offenheit für die Anliegen der Mitarbeitenden zu haben, für kontinuierliche Besprechungstermine zu sorgen und die Fähigkeit zur Perspektivübernahme zu entwickeln und zu stärken.
Für die*den individuellen Mitarbeitende*n geht es um die Gestaltung von Arbeitsbedingungen, in deren Rahmen die pädagogische Arbeit und die eigene Weiterentwicklung der Einrichtung bestmöglich unterstützt werden und das Ermöglichen von Fortbildung und Supervision, und zwar nicht erst im Konfliktfall, sondern als kontinuierliches Angebot zur Selbstreflektion und zum Abbau von Tabus.
Im Rahmen der Entwicklung der Organisation ist die bereits erwähnte Entwicklung einer achtsamen Einrichtungskultur notwendig. Eine authentische Einführung und Erhaltung moralischer Werte und Normen und die Entwicklung eines institutionellen Leitbilds unterstützen und tragen diese Kultur. Schließlich und letztendlich ist die Führungskraft Vorbild und zeigt durch eigenes Vorleben, dass all dies nicht nur leere Worthülsen sind.
In der Öffentlichkeit vermittelt die Leitungskraft ein klares und transparentes Selbstverständnis der Arbeitsweise und des Leitbildes der Einrichtung. Sie kommuniziert klar und transparent nach außen, auch im Falle von Fehlverhalten innerhalb der Einrichtung.
Grundlage all dessen ist, dass die Leitungskraft für sich selbst sorgt und Verantwortung übernimmt. Sie muss achtsam mit den eigenen Ressourcen umgehen, Supervision und/oder Coaching in Anspruch nehmen und Strukturen entwickeln, die es ermöglichen Schwierigkeiten und Probleme nach Möglichkeit vorzubeugen, schnell zu erkennen und sich auf einen angemessenen Umgang vorzubereiten.
Das klingt nach einer Menge Aufgaben. Und das ist auch so. Es gibt viel zu tun. Doch all diese Dinge sind keine Aufgaben, die wir als Kitaleitungen nicht sowieso haben, auch wenn viele von uns dem täglichen Dilemma gegenüberstehen, dass verwalterische Aufgaben den Alltag übernehmen und viel zu wenig Zeit für das bleibt, was das Essentielle ist - nämlich die Arbeit mit den Menschen in der Kita,
Ich habe vor drei Jahren eine Kita in Berlin übernommen. Von Anfang an war es mein Ziel in der Kita ein Kinderschutzkonzept zu implementieren. In den ersten zwei Jahren haben wir im Team die Grundlagen dafür geschaffen, auch wenn das vielen Fachkräften noch nicht klar war. Im Sommer 2020 beschloss unsere Steuerrunde, die Konzept zu erarbeiten und leistete die Vorarbeit. Im Januar 2021 haben wir den Auftakt gemacht. Ich habe beschlossen, diesen Prozess zu dokumentieren und hier auf dieser Webseite die Öffentlichkeit teilhaben zu lassen. Tada: Transparenz und Öffentlichkeit. Zu finden ist das in der neu geschaffenen Kategorie: Schutzkonzepte in der Kita. Ich freue mich über Rückmeldungen und einen regen Austausch zu diesen Prozessen. Denn schließlich und letztendlich gehört auch das dazu: Wir lernen aus all unseren Erfahrungen und ich persönlich habe immer am meisten im Austausch mit anderen Menschen gelernt.