Der Chef hat die Frage nach meiner Wirkung auf andere Menschen in den Raum gestellt und problematisiert. Der Grund: Ich zeige zu wenig Demut und bin nicht ausreichend devot. Die wohlwollende Empfehlung lautet: "Seien Sie leise, bringen Sie sich weniger ein. Sie exponieren sich zu sehr. In zwei Jahren können Sie das alles machen. Dann können Sie sich das erlauben." Ich zweifele nicht im Geringsten seine Erfahrungen, seine Kenntnis des Unternehmens und des Systems, in dem die Menschen agieren, an. Ich nehme ihm ab, dass er nur mein Bestes will.
Die Frage, die sich mir stellt, ist doch folgende: Will ich Teil eines Systems sein, dass von mir erwartet, leise zu sein, meine Kompetenzen und mein Wissen nicht zu offensiv zu zeigen, mich zurückzuhalten, mich nicht zu sehr und zu engagiert einzubringen?
Was muss ich denn tun, um dieser Anforderung gerecht zu werden? Soll ich bei der Einführung in die PC-Nutzung einfach geduldig zuhören, wenn mir erklärt wird, wie man einen PC einschaltet, dass ich nicht auf das Admin-Kästchen drücken darf, weil ich da kein Passwort weiß, wenn ich doch in meinem Lebenslauf bereits angegeben habe, über hervorragende PC-Kenntnisse unterschiedlichster Art zu verfügen? Verprelle ich damit den IT-Mann, wenn ich ihn freundlich auf das hinweise, was ich schon weiß und kann? Darf ich in einer AG zu einem Thema, in dem ich Expertin bin, besser nichts einbringen, weil ich neu bin? Darf ich in der Runde der Leitungen meine Meinung zu einem Thema, das diskutiert wird, nicht sagen, weil ich erst seit zwei Wochen hier arbeite?
Ein selbstständig denkender und unabhängig arbeitender Mitarbeiter ist anstrengend, eine intelligente und starke Frau zusätzlich eine Bedrohung? Eine intelligente und starke Frau eine Bedrohung!
Wer bin ich? Wer soll ich in diesem Setting sein? Und geht das überhaupt, eine zu sein, die nur auf eine bestimmte Art und Weise gewollt wird?
Wer bin ich? Ich bin eine fachlich hervorragend aufgestellte, hochqualifizierte Frau, die emphatisch agiert, über Fähigkeiten und Fertigkeiten aus der systemischen Beratungstätigkeit verfügt, analytische Fähigkeiten besitzt, schnell Zusammenhänge herstellen und Schlüsse für weiteres Handeln daraus ziehen kann. Kommunikation, Wertschätzung und Kritikfähigkeit sind in meinem Handeln nicht nur Worthülsen. Ich bin chaotisch, mein Schreibtisch versinkt nur deshalb nicht im Chaos, weil ich ihn mit meiner stellvertretenden Leitung teile. Ich schiebe Dinge, vor allem die unangenehmen, gern bis zur allerletzten Möglichkeit auf. Ich gehe immer davon aus, dass jeder für sein Handeln einen guten Grund hat. Ich bin sehr gut in der Lage, mich in die Perspektive meines Gegenübers zu versetzen und Verständnis auch ohne Akzeptanz aufzubringen. Die Grenzen meiner Toleranz sind weit gesetzt. Ich bringe Menschen Vertrauen entgegen, gelegentlich ein wenig zu viel. Ich schaffe es meist, auch trotz Verärgerung, Ressourcen bei dem Anderen zu erkennen. Ich bin sensibel und nehme mir oft die Dinge sehr zu Herzen. Ich habe Vorurteile. Ich mache mir meine Vorurteile bewusst. Ich weiß, was ich kann und weiß. Ich weiß, was ich nicht kann und nicht weiß.
Wer soll ich sein? Was wird von der Neuen erwartet? Demut und Devotismus, zumindest in einem gewissen Grade. An Regeln halten, die ich nicht kenne und die mir keiner erklärt hat. Jede Erwartung von jedem erfüllen, dabei aber zurückhaltend mit meinen sein. Leise sein, unauffällig sein. Zurückhalten. Einfügen. Abwarten. Taktieren. Protegieren lassen. Hinnehmen. Ein Porsche sein, der weiß, dass er 180 fahren kann auf der achtspurigen Autobahn, aber hinnehmen, dass der Verkehr zähflüssig ist.
Und? - Geht das? Als Porsche auf der Autobahn mit zähflüssigem Verkehr habe ich doch drei Möglichkeiten. Eins: Mich der zähen Masse anpassen und treiben lassen. Zwei: Lücken suchen, springen. Mich und andere gefährden bei der wilden Suche nach Schnelligkeit. Drei: Die Fenster schließen, die Musik laut aufdrehen, mitfahren mit dem zähen Strom bis die nächste Ausfahrt kommt.
Im Augenblick scheint mir Nummer drei als einzige wirkliche Alternative. Ich konzentriere mich auf meinen engsten Arbeitskreis, die unmittelbarsten Aufgabengebiete. Da gibt es viel zu tun. Und gleichzeitig konzentriere ich mich auf meine fachliche Entwicklung und Möglichkeiten, das umzusetzen, was mich am meisten erfüllt. Ich will keine Andere sein. Ich bin gut so wie ich bin. Meine Stärken, mein Mut, meine Leidenschaften und meine Liebe tragen mich im Leben. Und das vergesse und verleugne ich nicht.