Lernen findet tagtäglich statt. Kinder lernen ununterbrochen. Nicht immer ist uns Erwachsenen das bewusst. Und so werden pädagogische Fachkräfte in der Kita noch oft mit der Frage konfrontiert, wann die Kinder endlich anfangen, etwas zu lernen, wann die Vorbereitung auf die Schule beginnt. Viele Eltern erwarten immer noch eine Ergebnispädagogik, so wie sie es selbst in ihrer Kindheit erlebt haben. Eltern soll etwas vorgezeigt werden. Also malen alle Kinder einen Schmetterling und die werden dann ordentlich aufgereiht präsentiert. Meist ist dabei wenig Individualität erkennbar. Es ist lediglich zu sehen, wie geschickt Kinder mit dem Pinsel umgegangen sind oder auch wie viel Lust sie auf Malen hatten.
Seit 2004 arbeiten Erzieherinnen und Erzieher in Berlin nach dem Berliner Bildungsprogramm, was eine andere Art von Lernen in der Kita postuliert. Kinder sollen ganzheitlich lernen und entlang ihrer Interessen.
Nun, das kennen wir Erwachsene auch. Wenn wir Lust auf etwas haben, geht es uns leicht von der Hand. Sind wir aber gezwungen eine Sache zu tun, zieht sich die Zeit wie Kaugummi.
Und nicht anders geht es Kindern. Interessieren sie sich für etwas, vertiefen sie sich und vergessen die Welt um sich herum. Haben sie das auch schonmal bei einem Kind beobachtet? Wie es vertieft in eine Beschäftigung dasitzt und sonst nichts wahrzunehmen scheint. Oder wie es immer wieder eine Sache tut. Solange bis es die Sache durchschaut hat oder beherrscht. Dann verlieren Kinder schnell das Interesse daran und wenden sich einer neuen Sache zu.
"Ja, aber, wir wollen sehen, was unsere Kinder in der Kita so tun", sagen viele Eltern zu Recht. Um die Lernprozesse deutlich zu machen, beobachten pädagogische Fachkräfte die Kinder genau. Sie machen sich Notizen und dokumentieren die Lernprozesse im Sprachlerntagebuch (in Berlin) oder im Portfolio. Viele Pädagog:innen bei uns in der Kita nutzen Foto-Lern-Dialoge (http://www.kus-berlin.com/foto-lern-dialog-spielen-erleben-sich-ein-bild-machen/)
Lerngeschichten haben mit Foto-Lern-Dialogen gemeinsam, dass sie das Lernen in den Fokus stellen. Die Methode der Lerngeschichten kommt aus Neuseeland. Sie wurde von Margaret Carr entwickelt und von ihren vielen engagierten Kolleginnen verfeinert. Wer Pädagog:innen aus Neuseeland von den Lerngeschichten reden hört, erlebt eine große Liebe zu Kindern und ihrem Lernen. Sie sprechen von magischen Momenten, die sie in ihren Geschichten einfangen. Ein magischer Moment ist ein Moment, in dem Lernen von Kindern deutlich wird.
Mir sind Lerngeschichten das erste Mal vor 15 Jahren begegnet. Ich hatte davon gelesen und war begeistert. Zum Glück hatte ich kurz danach die Chance, einige neuseeländische Pädagoginnen auf einem Fachtag zu erleben. Das war einer der inspirierendsten Fachtage.
Seither habe ich viele Lerngeschichten geschrieben, für Kinder und auch für Kolleg:innen. Ich habe selber Fortbildungen und Workshops dazu gegeben und Fachkräfte mit meiner Begeisterung anstecken können. Wenn Kinder diese Geschichten hören oder Erwachsene die Geschichten lesen, zaubern sie ein Lächeln auf ihre Gesichter.
Während meiner Tätigkeit als Pädagogische Leitung und Fachberatung bei einem kleinen Berliner Kitaträger habe ich versucht, die Lerngeschichten mit den Anforderungen des Berliner Bildungsprogramms in Einklang zu bringen. Da Lerngeschichten ein ressourcenorientieres Beobachtung- und Dokumentationsverfahren ist, ist dies grundsätzlich unkompliziert. Margaret Carr spricht von Lerndispositionen. Meiner Erfahrung nach können wir unproblematisch mit den Lernkompetenzen des Bildungsprogramms arbeiten, ohne eine neue Kategorie aufmachen zu müssen.
Als ich anfing Fortbildungen zum Thema zu machen und die Lerngeschichten flächendeckend in den Kitas des Trägers einzuführen, habe ich mich stark an der Methode der Bildungs- und Lerngeschichten des Deutschen Jugendinstituts orientiert. Das ist ein sehr strukturiertes Verfahren. Aber irgendwie schien ich meine Kolleg:innen nicht damit begeistern zu können. Ich war höchst verwundert, haben doch Lerngeschichten bei mir immer viel Freude und Spaß am Dokumentieren hervorgerufen. In Vorbereitung einer neuen Workshopreihe dachte ich intensiv darüber nach, womit das zusammenhängen könnte. Ich versuchte mich zu erinnern, wie ich Lerngeschichten verfasst habe. Und da fiel mir auf, dass ich mich nicht ein einziges Mal an das Verfahren des DJI gehalten hatte und auch, dass es eine zusätzliche Anstrengung bedeutet, wenn sich Fachkräfte zuerst mit dem Konzept der Lerndispositionen vertraut machen müssen. In unserem permanent vollen Alltag, findet sich meist keine Zeit, sich darin zu vertiefen.
Jede Fachkraft beobachtet jedoch andauernd Kinder und ein paar kleine Notizen dazu zu machen, gelingt vielen durchaus. Die Kompetenzen aus dem Berliner Bildungsprogramm sind den Fachkräften vertraut. Also warum nicht dieses Wissen und diese Kompetenzen nutzen. Und so habe ich den Kolleg:innen gesagt, vergesst Tabellen und Protokolle, fangt einfach an zu schreiben. Wir haben uns die Geschichten angeschaut und gemeinsam überlegt, was gelungen ist und woran die einzelne Fachkraft noch arbeiten kann. Automatisch entstand so ein Austausch unter den Kolleg:innen über Kinder. Und viele konnten Freude am Dokumentieren entwickeln. Der Dreischritt half dabei, sich immer wieder zu überlegen, ob die Geschichte vollständig war. Individualität war hier erlaubt und erwünscht. Manche schrieben lange Geschichten, andere ganz kurze. Es gab Fotos, Zeichnungen der Kinder. Einige nutzten digitale Medien, andere schreiben mit der Hand. Die Vielfalt der Geschichten zeigen den Charme, den pädagogische Dokumentation haben kann.
Eine Lerngeschichte besteht aus drei Teilen:
Beobachtung der Situation(en) - Was habe ich gesehen?
Interpretation - Welches Lernen habe ich beobachtet? Welche Kompetenzen hat sich das Kind angeeignet/hat es erweitert? In welchen Bildungsbereichen hat es sich bewegt?
Nächste Schritte - Welche Ideen habe ich, um das Kind in seinem Lernen zu unterstützen?
Im Anschluss an das Schreiben kommt der schönste Moment. Die Geschichte wird gemeinsam mit dem Kind gelesen. Die Fachkraft schaut sich mit dem Kind die Bilder an und beide gehen in einen Austausch über die Geschichte. Die pädagogische Fachkraft kann und soll diesen Dialog dazu schreiben. Sie ist gleichsam ein Teil der Lerngeschichte. Das Kind lernt so, über sein eigenes Lernen nachzudenken und zu reflektieren. Es lernt auch, dass seine eigene Meinung, seine Sicht auf die Welt wichtig ist. Denn dieses Gespräch muss offen für die Sichtweise des Kindes sein. Möglicherweise weicht die Interpretation des Beobachteten durch die Fachkraft von der Wahrnehmung des Kindes ab. Wenn Kinder erleben, dass ihre Stimme gehört wird, ist das ein höchst demokratischer Prozess. Sie erleben, dass sie etwas bewirken können. Sie erleben sich als selbstwirksam.
Ich erinnere mich, dass das Mädchen vom Anfang meines Posts damals im Kinderladen sagte: "Nein, das hast du gar nicht richtig geschrieben. Das Spiel geht ganz anders." Gemeinsam hatten wir dann die Spielregeln nochmal neu aufgeschrieben. Was hatte sie davon, dass ich ihr eine Lerngeschichte geschrieben habe? Sie konnte sich noch nach vielen Jahren erinnern, dass sie allein etwas erfunden hatte. Sie hat erlebt, dass Erwachsene ihr zuhören und das sie etwas verändern kann (das Geschriebene). Ihre Kreation war so wichtig, dass sie es wert war, aufgeschrieben zu werden. Sie hat beim Lesen und Betrachten der Fotos die einzelnen Schritte nachvollziehen können und konnte ihre Spielregeln erweitern und verändern. Das Bestärken ihrer kreativen Fähigkeiten hat dazu geführt, dass sie diese Kompetenzen auch später in der Schule ausgebaut hat. Kürzlich habe ich die Mutter wieder gesehen. Das Mädchen geht nun zur elften Klasse und hat Kunst im Leistungsfach. Sie denkt darüber nach, ein künstlerisches Fach zu studieren. Die Mutter ist der festen Überzeugung, dass die Grundlage dafür im Kinderladen gelegt wurde. Was für ein schönes Gefühl, Spuren im Leben eines jungen Menschen hinterlassen zu können. Und die Lerngeschichten hatten daran mit Sicherheit einen kleinen Anteil.