Lieber T,
als ich vor ein paar Tagen an eurem Badezimmer vorbeikam, hast du mich aufgeregt hineingeholt. „D blutet ganz doll!“, hast du gerufen. Ich bin schnell dazu gekommen und war erleichtert, dass das Bluten schon aufgehört hatte. „A hat D an die Couch geschubst.“, hast du mir berichtet. D war sehr traurig, weil seine Lippe wehtat. Ich habe euch dann gebeten, mit mir gemeinsam zu A zu gehen, um die Sache zu klären. Du warst sehr besorgt um D und hast ihn gefragt, ob es ihm wieder gut gehen würde.
Im Traumzauberraum haben wir dann die Sache geklärt. Jeder von euch hat erzählt, was passiert war. Ihr wart euch da einig. A sagte, er hat aber „Entschuldigung“ gesagt. Du hast das bestätigt. D fand, dass sich A nochmal richtig mit der Hand entschuldigen soll und danach wollte er eine Umarmung zum Zeichen, dass sie wieder Freunde sind. A war einverstanden. Er entschuldigte sich. Als sich die beiden umarmen wollten, hast du gerufen: „Ich muss auch mitmachen! Ich war ja auch dabei.“ Das war für beide Jungs in Ordnung. Und so habt ihr euch alle drei umarmt.
Lieber T, ich habe schon häufiger gesehen, wie liebevoll du dich um andere Kinder kümmerst. Ich war sehr beeindruckt, wie du dich um D gekümmert hast, aber auch dafür sorgen wolltest, dass die beiden Jungs ihren Streit klären. Du hast ein gutes Gespür dafür, wenn es anderen Kindern nicht gut geht oder sie Hilfe brauchen. Du möchtest dafür sorgen, dass es anderen Kindern wieder gut geht. Wenn nötig, weißt du, bei wem du Hilfe holen kannst und du holst sie auch. Ich finde das sehr wichtig, dass ihr Kinder aufeinander achtet und freundlich miteinander umgeht. Du hast bei unserem Gespräch darauf geachtet, dass alle die Wahrheit sagen und dass alles so berichtet wird, wie es auch passiert ist.
Ich kann mir vorstellen, dass du ein sehr guter Streitschlichter sein kannst. Du kannst anderen Kindern helfen, ihren Streit zu besprechen und sich wieder zu vertragen. Vielleicht besprechen wir mal gemeinsam mit den anderen Kindern in deiner Gruppe und deinen beiden Erzieher*innen E und S, ob und wie du den Kindern in deiner Gruppe bei der Klärung eines Streits behilflich sein kannst. Wenn du willst, erzähle ich dir gern mehr darüber.
Lieber T, vielen Dank bei der Unterstützung, den Streit zwischen D und A zu schlichten. Das war ein sehr schönes Erlebnis für mich.
Eine Situation, wie sie zigmal am Tag in einer Kita vorkommt. Zwei oder mehr Kinder geraten in Streit über ein Spielzeug, einen Freund, eine andere Meinung ... In aller Regel eilen Erzieher*innen hinzu und bemühen sich, den Streit zu schlichten und nicht eskalieren zu lassen. Oft wissen sie dabei nicht, was genau passiert ist, wer angefangen hat, wer was getan hat. Häufig urteilen Erwachsene aufgrund ihres Umweltwissens.
"Ah, der Max ist wieder beteiligt. Na, der haut ja ständig die anderen Kinder." - Logische Schlussfolgerung: Der Max war bestimmt mal wieder der Verursacher des Streits. Was ist möglicherweise in Wirklichkeit passiert? Max hat einen Turm gebaut. Pawel ist vorbeigekommen und hat den Turm umgestoßen. Daraufhin ist Max wütend geworden und hat Pawel einen Stein an den Kopf geworfen. Nun blutet Pawel und weint. ...
Was hier recht eindimensional dargestellt ist, ist in Wirklichkeit im wahren Leben noch viel komplexer und noch weniger durchschaubar. Wer ist hier der Verursacher? Der Schuldige? Max, weil er den Baustein geworfen hat? Pawel, weil der den Turm umgeworfen hat. Eine Frage, die sich auf den ersten Blick sehr schwer klären lässt. Und wie ist nun die richtige Lösung? Wer muss was tun, damit der Konflikt aus der Welt geschafft werden kann? Wer entscheidet, was hier zu tun ist? Max? Pawel? Der*ie Erwachsene?
Wenn wir uns mit Streitschlichtung oder Mediation befassen, gilt es all diese und weitere Fragen zu beantworten. Ist es eigentlich wichtig, herauszufinden, wer der*ie Schuldige in einem Streit ist? Ist es nicht vielmehr so, dass es Beteiligte an einem Streit gibt und letztlich jede*r einen Anteil hat? Wir haben immer unsere eigene Perspektive auf die Wirklichkeit. Und das ist unsere Wahrheit. Und wer kennt die richtige Lösung? Ein* Außenstehende*r? Oder möglicherweise die am Streit Beteiligten? Wenn ich selbst in einem Konflikt war, dann waren die Lösungen, die ich mir selbst erarbeitet habe, die nachhaltigsten.
Der erste Schritt ist also, dass die Erwachsenen in der Kita, die Erzieher*innen oder Bildungsbegleiter*innen sich mit ihrem eigenen Bild von Streitschlichtung auseinandersetzen, mit ihrer Rolle in der Kita, mit ihren Werten und Normen. Begreife ich mich als Begleiterin, die Kinder dabei unterstützt, ihre eigenen Lösungen zu finden, dann muss ich auch bei der Schlichtung eines Streits anders agieren als bisher gewohnt. Es geht nun nicht mehr um Intervention, um eine absolute Wahrheit der Erwachsenen, sondern um die Anerkennung von Perspektiven, unterschiedlichen Wahrnehmungen und die Lösungsfindung in der Hand der Kinder. Letzteres hat auch etwas mit Aushalten zu tun. Nämlich auszuhalten, wenn die Lösung eine komplett andere ist, als mir als Erwachsener sinnvoll erscheint. Möglicherweise ist sie extrem unkonventionell. Oder ich vermute eine zu geringe Nachhaltigkeit aufgrund meiner größeren Lebenserfahrung.
Es gilt also, sich eine Haltung zu diesen Themen zu erarbeiten, die geprägt ist von einem sehr modernen frühpädagogischen Bildungs- und Erziehungsbegriff, das Kind als kompetent für seine eigenen Belange anzuerkennen und ihm die Lösung seiner Probleme zuzutrauen.
Bei der Mediation grundsätzlich und der Mediation von Konflikten unter Kinder sind folgende Voraussetzungen wichtig:
Professionelles Beobachten
Pädagogische Fachkräfte müssen über sehr gute Beobachtungsfähigkeiten verfügen. Dazu gehört eine zurückhaltende Haltung. Häufig gewinnen wir durch intensivere Beobachtung interessante Erkenntnisse über Dynamiken in Gruppen und im Verhalten der Kinder. Wenn die Fachkraft aushält, eher die Beobachterin zu sein, wird sie ein tieferes Verständnis in die Beweggründe für Verhalten und mit Sicherheit so einige neue Einsichten über Ursachen von Gruppenprozessen gewinnen.
Allparteilichkeit
Bei der Mediation nimmt der*ie Mediator*in eine allparteiliche Haltung ein. Es geht nicht um die Feststellung der einen Wahrheit, sondern die Wahrnehmung und Anerkennung der unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten. Die jeweilige Perspektive ist für den jeweiligen Konfliktpartner eben die richtige.
Die pädagogische Fachkraft hat bei der Mediation die Aufgabe, diesen unterschiedlichen Perspektiven Raum zu geben. Kinder beginnen in der Regel im Alter von vier Jahren, anderen Menschen und sich selbst kognitive Zustände zuzuschreiben, die von der Wirklichkeit abweichen können. Es ist das Alter, in dem Kinder das Konzept von Lügen verstehen und absichtlich nutzen, um zu verwirren. Sie entwickeln ein Verständnis dafür, dass ein Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedlich aussehen kann.(Quelle: https://www.psych.uni-goettingen.de/de/development/pdfs/Esken-Rakoczy-ToM_2013.pdf, Zugriff: 08.04.2018). Sie sind also erst dann dazu in der Lage, einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Und dann sind sie noch im Lernprozess!
Anerkennen der Eigenverantwortlichkeit der Kinder
Verantwortlich für die Lösung ist nicht der*ie Mediator*in, sondern es sind die Kinder, die diese Lösung finden müssen. Der*ie Mediator*in ist aber für den Prozess verantwortlich, dafür, dass jede*r zu Wort kommt, jede*r gehört wird und alle an der Lösungsfindung beteiligt sind. "... nicht jeder Konflikt muss detailliert aufgearbeitet werden und nicht in jeden Streit müssen sich Erzieherinnen einmischen. Es geht vielmehr um ihre Einstellung und Haltung zu Konflikten und darum, Kindern zu ermöglichen, selbst eine Lösung zu finden - was ihnen erfahrungsgemäß häufig gelingt. Die Lösungen der Kinder sind oft fantasievoll und ungewöhnlich. Wichtig ist, sie nie zu werten oder in Frage zu stellen. Die Problemlösung der Kinder muss nicht die Lösung der Erzieherin sein." (Quelle: https://www.herder.de/kiga-heute/fachmagazin/archiv/2011-41-jg/1-2011/kinder-schlichten-streit/, Zugriff: 08.04.2018)
Ergebnisoffenheit
Mediation muss ergebnisoffen sein. Wenn die Lösung schon vorher klar ist und der*ie Mediator*in nur darauf hinarbeitet, dann sind die Beteiligten ungenügend in die Lösungsfindung involviert und die Motivation für eine nachhaltige Streitschlichtung ist geringer. In Kitas beobachte ich immer wieder, dass die gängige Lösung eine Entschuldigung ist. Kinder werden dazu aufgefordert, sich zu entschuldigen, damit alles vergessen ist. Häufig habe ich dabei den Eindruck, dass die Entschuldigung ein Automatismus und nicht eine bewusste Entscheidung ist. Ich frage mich, wie viel diese Entschuldigung dann wert ist. Kinder haben oft ganz andere Vorstellungen, was die Sache wieder gut macht. Und oft sind diese Vorstellungen überraschend.
Bevor sich also ein Kitateam auf den Weg machen sollte, Streitschlichter in der Kita einzusetzen und Mediation zur Konfliktschlichtung zu nutzen, müssen die pädagogischen Fachkräfte sich also mit ihrer eigenen Haltung, ihren Werten und Normen auseinandersetzen.
Dabei kann es nicht darum gehen, eine Haltung zu verordnen. Haltung ändert sich nicht von heute auf morgen. Und dieser Prozess kann auch nicht von außen gesteuert werden. Wenn die Fachkräfte eines Teams sich diesem Thema widmen wollen, ist das eine gute Voraussetzung für einen gelingenden Prozess. Aus meiner Erfahrung heraus, ist es sinnvoll, der Auseinandersetzung um die Haltung der pädagogischen Fachkräften, das Bild vom Kind und von frühkindlicher Erziehung und Bildung viel Zeit und Raum einzuräumen, bevor in einem Team tiefgreifende Veränderungsprozesse angestoßen werden. Sonst läuft das Team Gefahr, oberflächliche Vereinbarungen zu treffen, die von Einzelnen nicht getragen und dann im Alltag bewusst oder unbewusst unterlaufen werden. So scheitern häufig gute Ideen in der Umsetzung. Und das führt langfristig zu enormen Frustrationen im Team.
Die Geschichte um T vom Anfang des Artikels kann ein Anlass sein, im Team das Konzept von Streitschlichtung mit Kindern zu thematisieren und zu diskutieren und sich mit der Haltung der pädagogischen Fachkräfte zu diesem Thema auseinanderzusetzen.
Im zweiten Teil der Reihe "Wenn Kinder streiten - Mediation mit Kindern in der Kita" geht es um die Erarbeitung eines Streitschlichtungskonzepts mit den Kindern.